Menschen existieren, indem sie Geschichten erzählen

Jul 25th, 2016 | By | Category: Akteure, Allgemein, Fragen, Geschichten, Politik

Salman Rushdie sagte in seiner Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse 2015: Menschen existieren, indem sie Geschichten erzählen. Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht. Das hier ist meine Geschichte. Meine Existenz. Er bezog sich auf die Redefreiheit, ich beziehe mich auf die grundlegene Existenz.

Verstehen Sie mich richtig: Ich existiere nur wegen dieser Geschichte, ich existiere durch sie und in ihr. Darüber hinaus gibt es mich nicht.

Mein Nebenan ebenso. Sie existiert nur wegen ihrer Geschichte. Und der Mann dort vorne ebenso. Das Kind hier auch und all die anderen um mich und Sie herum.

Mein Nebenan ist ein Nachbar. Er ist alt und im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Er war ein Kind und sah die Truppen marschieren, die Städte brennen und die Menschen hungern.
Er meint es ist falsch dass sie hier ist. Sie hätte bleiben sollen wo sie herkam. Es gibt hier nicht genug Platz für solche.
Seine Ansicht ist, dass die alle nur den Terror hierherbringen. Das sie Dreck sind.
Er denkt sie müssen abgeschoben werden. Augen zu und weg. Alle weg, nur weit weg. So wie damals. Wohin ist ihm egal. Wenn es gar nicht anders geht in ein anderes Land oder nach … aber das darf man ja heute nicht mehr sagen.
Er fühlt Wut. Er wurde nicht gefragt und immerhin: die da oben machen nur was sie wollen.

Sie meint dass hier alles anders ist. Das alles anders aussieht, anders riecht. Sie meint, dass alles besser wird.
Ihrer Ansicht nach wird es ihr hier besser gehen. Wird es ihrem ungeborenen Kind besser gehen. Ihrem letzten Kind. Ihr Mann starb in ihrer Heimat. Weit weg. Ihr zweites Kind bei ihm. Ihr ältester Sohn ertrank im Meer.
Sie denkt das die Menschen hier auch Angst haben. Jetzt, seit neuestem. Alle schauen sie an, das ist ihr unangenehm. Das macht ihr Angst. Sie sucht Hoffnung und vertrauen in sich, bei ihrem Kind und bei Gott.

Das Kind hier meint das die Welt schön ist. Bunt und lustig. Dass sie nach Süßigkeiten und Erde riecht. Nach Wald und Laub und Autos.
Es meint, dass Erwachsene ziemlich doof sind, dass sie sich streiten wegen unwichtigen Zeugs. Wegen Arbeit und weil der da drüben so komisch aussieht. Der ist viel dunkler als das Kind und der spricht so komisch. Aber er ist doch nett. Und getan hat er auch niemanden was.
Die Ansichten des Kindes interessieren die Erwachsenen nicht, was schade ist, denn dem Kind ist es egal ob sich jemand zum Pinkeln hinsetzt, stellt, liegt oder auf einen Baum klettert, die Hosen herunterlässt, vom Ast baumelt und es einfach so läuft.  Dem Kind ist es egal ob jemand einen Burkini trägt oder einen Bikini. Das Kind findet es lustig, das Papa manchmal Mamas Kleid anzieht und so erschreckt aussieht, wenn es ins Zimmer kommt. Dem Kind ist Gott egal und Religion, so es denn einen Gott gibt ihm nicht das Kind, was die einzige Hoffnung in dieser Beziehung ist.
Das Kind ist nur manchmal irritiert, es fühlt was die Erwachsenen denken und wollen, aber sie benehmen sich nicht so. Das ist verwirrend.

Er dort hinten ist vor zwei Jahren bei seinen Eltern ausgezogen und studiert. Angefangen hatte er mit Jura, aber die Abwägungen und das es immer darauf ankommt machen ihm Schwierigkeiten. Die Welt in grauen Abstufungen zu sehen und zu unterteilen fällt ihm schwer. Deshalb ist er Informatik umgeschwenkt.  Hier gibt es 0 und 1 und hier fühlt er sich wohl. Warum kann die Welt nicht einfach schwarz und weiß sein? Religion ist schlecht und das Alte Testament ist das gefährlichste Schriftstück, welches jemals in der Welt aufgetaucht ist. Als gemeinsamer Nenner der verbreitesten Religionen des Erdenballs hat kein Buch mehr Unheil angerichtet. Wahnsinnige und Irre streiten bis zum heuteigen Tage darum, ob ihre Sichtweise und Interpretation ein paar Aufzeichnungen die einzig Richtige ist. Und morden und sterben seit Jahrtausenden dafür. Warum muss das so sein? Das ist schlecht, er versteht nicht warum Menschen daran glauben. Er versteht auch nicht, warum sie ihn immer wieder abweist. Sie studiert Robotik und hat ihn schon wieder geschnitten. Er will doch nur einmal mit ihr ausgehen, ihr zeigen wie sehr er sie mag. Er ist wütend deswegen. Mit Zurückweisung kam er noch nie gut zurecht.

Sie lebt zwei Häuser weiter und meint er da hinten sei ein widerlicher Sexist. Ihre Kinder gehen in den selben Kindergarten und neulich hat sie gehört wie er sagte dass dieser Nein-heißt-Nein-Schwachsinn doch nur so ein Feministinnengewäsch von Alice Schwarzer sei. Alice Schwarzer ist, findet sie, zwar auch nicht die netteste Person der Welt, aber Frauen müssen unbedingt vor den Männern geschützt werden.  So ein Schwein von einem Mann. Das hätte sie sich auch gleich denken können. Immerhin schaut er sie ja ständig so an. Widerlich. Wobei er sich gut um seine Tochter kümmert. Sie hatte gehört, das er sie allein großzieht, was wohl aus der Mutter geworden ist? So wirklich hat sie mit ihm ja doch noch nie gesprochen.

Er ist tatsächlich Alleinerziehend. Seine Frau hatte ihn vor einigen Jahren für einen anderen verlassen in eine andere stadt gezogen. Eigentlich wollte sie auch das gemeinsame Kind mitnehmen. Ihrer beiden Tochter.  Sie ist auch sein Kind und er fühlt, dass er die Trennung nicht überlebt hätte, innerlich. Der einzige Grund warum sie bei ihm lebt ist eine gerichtliche Anordnung. Die Familienrichterin hielt das gewohnte Umfeld für besser. Er ist traurig, enttäuscht und wütend über die Trennung. Schließlich liebt er sie noch immer. Ein wenig. Die Trennung ist für die Person, welche getrennt wird immer härter.  Aber seine Tochter gibt ihm Hoffnung. Eine Hoffnung die schmerzt. Er sieht seine Ex-Frau in ihr, sich selbst und die eigenständige Person die heranwächst.  Er ist stolz und vielleicht geht es mit ihm auch bald wieder aufwärts. Die eine Mutter sieht ihn in der letzten Zeit immer so an. Sie ist nicht verheiratet, vielleicht… hübsch ist sie und die Erzieherin hat gesagt, dass sich die Kinder gut verstehen und miteinander spielen. Im Übrigen: die Nein-heißt-Nein Debatte hat ihn aufgeregt. Und als ihm neulich ein befreundeter Anwalt mal die Auswirkungen aufzeigte… man. Was für ein Quatsch.  Wirklich hat sich nichts geändert, jedenfalls nicht im zum  Besseren.

Ich bin ich, aufgewachsen, erzogen und belehrt. Habe mir verschiedenes angelesen, habe dies und das gesehen und jenes und überhaupt einiges ausgeblendet, vergessen oder ignoriert. Ich wurde gezogen und zerschlagen, neu aufgebaut und in Form gepresst. Hatte Auswüchse, Ecken und Kanten und habe diese Beschlagen und gestaltet. Ich bin noch lange nicht fertig aber: ich bin ich.
Ich denke, dass es falsch ist, einen anderen Menschen abzulehnen, nur weil er andere Meinungen oder Ansichten hat. Weil er oder sie anders aussieht, anders spricht, anders fühlt. Weil dieser Mensch an einen Gott glaubt, welchen auch immer. Ich denke, dass es so richtig ist und dass alle so denken sollten. Warum machen sie es nicht, es ist doch so einfach? Nicht?
Naja, vielleicht haben sie auch einfach etwas Angst. So wie ich auch. Ein wenig Angst. Angst davor zu sagen welche Meinung ich habe, denn meine Meinung ist nur eine von vielen und oft wird sie niedergebrüllt und ihr mit Emotionen und lautem Protest anstelle von Vernunft und überlegten Argumenten begegnet. Unverständnis und Verwirrung ist auch so ein Gefühl. Meine Ansicht von Religion widerspricht der Ansicht von Anderen. Ich fühle keinen Glauben, ich habe dafür keinen Platz in meinem Herzen. Dort ist nur meine Familie, meine Freunde und die Hoffnung, dass es eine Zukunft für uns alle gibt. Ich fühle mich unbehaglich, wenn ich Menschen sehe, die ich nicht kenne. Wie denken sie? Was fühlen sie? Sie sehen anders aus, haben ein anderes Geschlecht, sprechen eine andere Sprache und haben andere Dinge erlebt, gelesen, gesehen, aufgenommen und verarbeitet. Ich hoffe, ich bin neugierig und ich habe Angst davor sie kennenzulernen. Eben weil ich sie nicht kenne. Sie sind fremd und deshalb habe ich etwas Angst. Das Einzige was hilft ist aufzuhören Angst zu haben. Ich will keine Angst habe und ich verbiete es mir. Ich will sie kennen lernen. Sie und ihre Familie, ihre Freunde und ihr Leben. Egal was ihre Meinung oder ihre Ansicht ist. Egal was sie denken. Ich muss sie kennenlernen. Nur so kann ich keine Angst mehr haben.

Ich will alle ihre Geschichten kennen, ich will, dass sie existieren. Salman Rushdie hat Recht und ich will ihre Stimmen hören. Noch wichtiger: ich will das sie einander hören.

 

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